Michael Deiwick am 27. April 2017

Wandsonnenuhr VETRO mit Anzeige der mitteleuropäischen Sommerzeit (MESZ)
Foto: Michael Deiwick

Auch „Nordlichter“ wie meine Frau (allerdings nur geographisch, denn sie stammt aus Südperu) und ich genießen die Sonne, wenn sie denn einmal scheint.
Also empfanden wir es als behebenswerten Mangel, die Zeit auf dem Balkon unserer Hamburger Wohnung nicht auf einer Sonnenuhr ablesen zu können, nachdem wir bereits das Haus meiner Frau im ewig sonnigen Arequipa mit vier Sonnenuhren (VETRO, SCALA dibond, zwei AEQUINOX) ausgestattet haben und eine POLARIS XXL 350mm sowie die CHRONOS und eine MAGELLAN folgen werden.

Für Hamburg erwarben wir zunächst eine AEQUINOX mit einer für unsere örtliche Lage berechneten Zeitabweichungstabelle aus Glas sowie eine CHRONOS.

So weit, so gut.

Gleichwohl kam mir Paul Ackermann (Mahagonny Brecht/Weill 1930) in den Sinn: „Aber etwas fehlt...“, nämlich eine großformatige VETRO für die Balkonwand.
Aber wie und in welcher Gestaltung?

Herr Dr. Heller regte an, den Blogbeitrag von Herrn Dr. Güttler „VETRO vertical in Nürnberg“ zu lesen und danach wussten wir, was wir brauchten und wollten, nämlich eine MEZ/MESZ Sonnenuhr und Herrn Dr. Güttlers überzeugend konsequenter Gründlichkeit der Vermessung in nichts nachzustehen.

Die nächsten Tage waren spannend und anregend:

Herr Dr. Heller entnahm aus Google Maps die Ausrichtung unseres Balkons, während ich mir bei der zuständigen Behörde einen digitalen Auszug aus dem Liegenschaftskataster besorgte (Anlage 1), aus dem Herr Dr. Heller unter Berücksichtigung der Meridiankonvergenz (0,79° westlich) eine Südabweichung von 123,51° nach Westen berechnete. Die Südabweichung ist der Winkel der Wandsenkrechten zur Südrichtung. Die Meridiankonvergenz ist der Winkel der parallelen Gitterlinien der Kartenprojektion (Gitternord) zur geographischen Nordrichtung (geographisch-Nord). Der Hauptmeridian der Karte, der mit der geographischen Nordrichtung übereinstimmt, ist der 9. Längengrad östlich von Greenwich. Wir liegen auf 9°59' O. Die zum Hauptmeridian parallele Gitterlinie auf der Karte konvergiert auf der Erdoberfläche zum geographischen Nordpol. Der Richtungswinkel, der sich auf unserem Balkon errechnet, beträgt 0,79° nach Westen.

Hier tauchte ein skurriles Problem auf: Die etwa 110 Jahre alten Häuser unserer Wohnstraße verlaufen in einer Flucht, bzw. räumlich versetzt parallel in einer Flucht, die vor ungefähr vierzig Jahren neu angelegte Straße aber nicht, was sich unschwer aus Anlage 2 entnehmen lässt. Und nur die war digital vermessen, während die Angaben über die Häuser aus handgezeichneten Katastern – von wann, wusste die Behörde nicht – ohne Neuvermessung digitalisiert übernommen wurden.

Demnach blieb das Problem mit der Berechnung der genauen Südabweichung. Nun haben meine Frau und ich das Glück, in einem Stadtteil mit vollständiger Infrastruktur zu leben, also auch einem öffentlich bestellten und vereidigten Vermessungssachverständigen. Also unseren Hund an die Leine und in fünf Minuten zum Büro von Herrn Endrikat mit dem Wunsch, die Abweichung für unseren Balkon im 4. Stock zu berechnen.

Das Stichwort „Südabweichung mit Berücksichtigung der Meridiankonvergenz“ weckte bei allen Anwesenden längst vergessene Erinnerungen an lange zurückliegende Ausbildungs- und Studienzeiten, denn praktische Anwendungen gab es mangels Nachfrage bislang nicht. Und so wurde der überaus an der Fragestellung interessierte Azubi Herr Zimmermann allseits für die ehrenvolle Aufgabe auserkoren und von mir mit dem Blogbeitrag von Herrn Dr. Güttler und den Kontaktdaten von Herrn Dr. Heller versehen. Er freute sich und erledigte den Auftrag nach Rücksprache mit Herrn Dr. Heller mithilfe eines computergestützten Theodoliten und dem Ergebnis eines Winkels von 32,4951° zur Nordrichtung (Anlage 2), wobei die Übereinstimmung beider Messungen nach der Aussage von Herrn Dr. Heller eine bessere Genauigkeit als die einer Standardwasserwaage darstellt.

Herr Dr. Heller berechnete und entwarf danach unsere Hamburger Doppel-VETRO und ging geduldig auf meine graphischen Gestaltungswünsche - wie etwa der Einzeichnung der Tag- und Nachtgleiche sowie der Sommer- und Wintersonnenwende – ein (Anlage 3), die wir sämtlich als uns letztlich nicht befriedigend zurücknahmen und nehmen mussten, denn wir waren uns mit Herrn Dr. Heller einig, eine dem schnellen Verständnis der Zeitablesung schädliche optische Überladenheit sollte vermieden werden. Und so entstand die Endzeichnung (Anlage 4).

Die Doppel–VETRO nahm nun körperliche Gestalt an und Herr Dr. Heller empfahl ein neuartiges Druckverfahren, dessen Qualität er sich zunächst durch Proben vergewissern wollte. Das digitale Druckverfahren verwendet keramische Farben, die beim Wärmebehandlungsprozess des Einscheibensicherheitsglases (ESG) bei 630°C eingebrannt werden. Die Farben werden damit quasi zu Glas und sind gegen Verkratzen und Witterungseinflüsse hervorragend geschützt.

Uns stellte das wegen des Winters und der Sonnenarmut vor keine Probleme, abgesehen davon, dass gut Ding Weile haben will. Wenig später avisierte Herr Dr. Heller den Versand der Doppel-VETRO per Spedition, die kurz danach bei uns anrief, um einen Liefertermin abzustimmen. So weit, so gut, der Termin wurde eingehalten.

Ich wusste zwar, dass Speditionen nur bis zur ersten abschließbaren Erdgeschosstür liefern, ahnte aber nicht, dass die immerhin 1,10m x 1,20m messende Uhr gegen Bruchschäden gesichert in einem „Holzkäfig“ verpackt war und so insgesamt mehr als 50kg wog. Der Fahrer war hilfsbereit und trug – eher schleppte – den Kasten mit mir in den Fahrstuhl (ein ordentliches Trinkgeld danach war selbstverständlich). Also mit Hund, der bei allem dabei sein wollte, in den 4. Stock und die Uhr allein auf einer Fußmatte neben die Wohnungstür geschleift.

Bei der „Befreiung“ der Doppel-VETRO aus ihrem „Gefängnis“ schwankte ich kurz zwischen Akkuschrauber und Handarbeit mit einem Schraubenzieher, entschied mich aber aus Vorsicht für den Schraubenzieher, was mir einen längeren Aufenthalt im Etagenflur, eine Vielzahl schöner Holzschrauben und einen dankbaren Nachbarn als Abnehmer der Holzlatten bescherte.

Wohl dem, der einen guten DIY-Freund besitzt, der die Welt um sich herum vergisst, wenn er seiner Passion nachgeht und weiss, was er tut.
Allerdings lebt dieser Freund in Irland, sagte sich aber für die Woche nach Ostern 2017 in Hamburg an und übernahm bereitwillig die problematischen Arbeiten wie das unsägliche Bohren in Altbauwänden (deren Materialien niemand kennt) nach lotgerechter Ausrichtung der Dübellöcher, was sich aber durch den mitgelieferten rechteckigen Metallrahmen eher einfach gestaltete. Mir blieb nur, was ich kann (deshalb wurde ich in grauer Vorzeit auch den Panzergrenadieren zugeteilt, weil es zu mehr nicht reichte), nämlich als untergeordnete Hilfskraft das bloße Tragen der Doppel-VETRO vom Flur zur vorgesehenen Balkonwand, dies mithilfe eines weiteren Freundes.

Die Uhr wurde in ihre Halterung eingehoben und die Befestigungen nach nochmaliger Messung des Lotes mit der Wasserwaage und entsprechender Feinausrichtung angezogen. Und dann hing sie, wie wenn sie schon immer dort gehangen hätte, während der Gnomon bei Sonne am Nachmittag und Abend seinen minutengenauen Schatten wirft.

A propos Schatten: In Literatur und Musik wird der Verlust des Schattens häufig mit dem Verlust der Seele gleichgesetzt, wie etwa in Chamissos „Peter Schlemihl“, E.T.A. Hoffmanns „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“, als Librettoanregung umgesetzt in Jaques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und wohl zuletzt in anderer Bedeutung, nämlich fehlender Fruchtbarkeit, in „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss.

In der Umgangssprache ist es üblich, einen Schatten mit dem eher banalen Spruch „kein Licht ohne Schatten“ als Umschreibung für etwas Negatives zu verwenden. Das würde ein Sonnenuhrfreund niemals sagen. Wie schön, wenn angenehme Wunschvorstellungen Realität werden und die Sonne einen sichtbaren Schatten hat (Anlage 5).

Anlage 1

Anlage 2

Anlage 3

Wandsonnenuhr aus Glas mit Sommerzeitanzeige

Anlage 4

VETRO Wandsonnenuhr aus Glas mit MESZ-Anzeige

Anlage 5: Wandsonnenuhr VETRO - Zifferblatt der aufsteigenden Sonne (Winter/Frühling)
Foto: Michael Deiwick

 

Kommentare

Hallo Herr Deiwick,
vielen lieben Dank für diesen wunderbaren Bericht über eine ebenso wunderbare VETRO-Wandsonnenuhr. Es freut mich sehr, dass Ihnen mein Bericht für die Entscheidung zur VETRO und zur Berechnung der notwendigen Daten hilfreich war. Da diese Sonnenuhr von Herrn Dr. Heller wirklich sehr exakt gefertigt wird und eine verblüffend hohe Genauigkeit aufweisen kann, war es wirklich wichtig, dass Sie sich die viele Arbeit mit der Berechnung der genauen Südabweichung gemacht haben. Mir hat diese Arbeit bzw. Recherche damals auch sehr viel Spaß gemacht, da man so quasi erfühlen kann, welche astronomische Kraft das Uhrwerk unseres kleinen Kunstwerks antreibt. Auch ich hatte damals die Erfahrung gemacht, dass die Vermessungsingenieure sehr hilfsbereit sind, da sich die Arbeit vom alltäglichen Geschäft abhebt und an die Ausbildung erinnert. Hier genaue Werte zu liefern ist dann Ehrensache. Vielleicht können Sie erahnen, welche Anstrengungen bei mir notwendig wahren, die schwere Sonnenuhr an die Wand zu bringen. Meine VETRO hat gut 40 Kg Gewicht der reinen Glasplatte und die parallel zur Wand zu montieren hat und damals schon ordentlich ins Schwitzen gebracht (damals im August hatte es auch noch über 35°C). Wie ich sehe, hat Ihre Hausfassade an starke Südabweichung nach Westen, d.h. Sie können die Uhrzeit insbesondere in den Nachmittags- und Abendstunden sehen. Nach Ihrem Bericht ist dies ja auch nicht Ihre erste Sonnenuhr - Sie sind ja in mehreren Erdteilen unterwegs und können neben dem sonnenarmen Hamburg auch die Sonne Südamerikas genießen.
Ich wünsche Ihnen sehr viel Freude mit Ihrer neuen Sonnenuhr und auch viele Bewunderer dieses astronomischen Meisterwerks. Die VETRO ist ja nicht für Jedermann Selbsterklärend und so gibt es immer neuen Gesprächsstoff.

Viele sonnige Grüße aus Nürnberg
Bastian Güttler

Sehr geehrter Herr Dr. Guettler,
danke fuer Ihre freundlichen Zeilen. Sie weisen zu Recht auf die Notwendigkeit einer exakten Vermessung hin, um den Sonnenuhren von Herrn Dr. Heller das zu " entlocken ", was sie koennen, naemlich entweder die WOZ oder auch eine gewillkuerte Zeit genau anzugeben.
In diesem Zusammenhang bezweifele ich stark, ob andere Faecher als die der Naturwissenschaften sich ueberhaupt zu Recht als Wissenschaften bezeichnen duerfen. Dass eine Formel oder eine Berechnung stimmt oder auch nicht, laesst sich zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt ueberpruefen.
Die sogenannten Geisteswissenschaften dagegen halten es mit Goethes Zahme Xenien :
"Im Auslegen seid frisch und munter ! Legt ihr's nicht aus, so legt was unter."
Das kann ich so unbefangen aeussern, weil ich vor langer Zeit ...wissenschaft studiert und mein Berufsleben mit Interpretieren und Auslegen verbracht habe.
Und wenn dann der Bundesgerichtshof oder ein anderes oberstes Gericht seine bisherige Rechtsprechung aendert, werden grosse Teile von Bibliotheken zu Makulatur. Naturwissenschaften vertragen und verzeihen keine willkuerlichen Entscheidungen, die sogenannten Geisteswissenschaften hingegen leben geradezu davon.
Herzliche Gruesse aus Arequipa nach Nuernberg.
Michael Deiwick

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